Lieber Paul,
ja, ohne diese Regel kämen mehr Parteien in den Bundestag. Nur, die Parteien müssen sich nach der Wahl einigen, wer die nächsten vier Jahre regieren soll. Kleine Parteien vertreten nur wenige Wähler. Wenn viele von ihnen die Regierung bestimmen, kann es leicht passieren, dass eine sagt: „So, wir haben für unsere Wähler alles erreicht, wir machen nicht mehr mit.“ Die anderen Parteien wären dann „angeschmiert“. Sie hatten sich auf die kleine Partei verlassen und können nun nicht mehr machen, was verabredet war.
Vor hundert Jahren hatte Deutschland einmal sehr viele Parteien im Bundestag. Damals haben die Parteien so viel gestritten, dass die Menschen sich schließlich von der Demokratie abwandten. Damit das nicht wieder passiert, haben die Deutschen die Fünf-Prozent-Hürde eingeführt. Parteien müssen sich nun bemühen, mehr Wähler anzusprechen als früher, und es ist ausgeschlossen, dass sehr kleine Minderheiten die ganze Regierung stürzen. In Ländern, wo es niedrigere oder keine Hürden für Parteien gibt, halten Regierungen oft keine vier Jahre. Außerdem müssen Wähler länger warten, bis die Parteien sich nach der Wahl einig sind.
Der Preis, den wir für einfacheres Regieren zahlen, ist hoch, denn die Fünf-Prozent-Hürde bedeutet, es werden weniger Meinungen im Bundestag vertreten. Deswegen gibt es die Hürde in Deutschland auch nur, wenn nach der Wahl eine Regierung gebildet werden muss. Bei Europawahlen zum Beispiel ist das nicht so, darum ist eine Hürde dort nicht angemessen. Wenn wir die Hürde einmal nicht mehr wollen, können wir sie jederzeit ändern oder abschaffen – mit einer einfachen Mehrheit im Bundestag.
Prof. Dr. Michael Herrmann leitet die Arbeitsgruppe „Wahlen und Demokratie“ an der Universität Konstanz.
